Ernst Ludwig Kirchner
[Marsalle, Louis de].
*6.5.1880 Aschaffenburg (D), †15.6.1938 Davos (GR).
Deutscher Maler, Grafiker und Bildhauer des Expressionismus. Mitbegründer
der Dresdner Künstlergruppe Brücke. Lebte von 1917 bis zu seinem Tod in
Davos Frauenkirch.
Ernst Ludwig Kirchner kam als erster von drei Söhnen zur Welt. Der Vater
Ernst Kirchner arbeitete als Papierchemiker in Aschaffenburg, Perlen bei
Luzern und Chemnitz, wo sich die Familie endgültig niederliess. Nach dem
Abitur begann Kirchner an der Technischen Hochschule in Dresden Architektur
zu studieren. Nach einem Semester am privaten Kunstinstitut von Wilhelm von
Debschitz und Hermann Obrist in München (1903–04) kehrte er nach Dresden
zurück, um sein Studium 1905 mit dem Diplom als Ingenieur abzuschliessen.
Den Wunsch, als freier Künstler zu arbeiten, verfolgte Kirchner gemeinsam
mit den drei Studienkollegen Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl
Schmidt-Rottluff, mit denen er 1905 die legendäre Künstlergruppe Brücke
gründete.
1908 erster Aufenthalt Kirchners auf der Ostseeinsel Fehmarn. 1910 Mitglied
des deutschen Künstlerbundes. Juni 1911 Reise mit Otto und Maschka Mueller
nach Böhmen, Oktober 1911 Umzug nach Berlin. Gründete mit Max Pechstein das
MUIM-Institut (Moderner Unterricht in Malerei); Mitglied im Sonderbund
westdeutscher Kunstfreunde und Künstler. 1912 Beteiligung an der
Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes in Köln. Erhielt mit
Heckel den Auftrag, die dortige Kapelle auszumalen. 1912 Bekanntschaft mit
Erna Schilling, die seine Lebensgefährtin wurde. Die Sommermonate 1912–14
verbrachte Kirchner auf Fehmarn, wo eine grosse Zahl an Gemälden,
Aquarellen, Zeichnungen und Druckgrafiken entstand. Wegen Unstimmigkeiten
über die von Kirchner verfasste Chronik der Brücke löste sich die
Künstlergemeinschaft 1913 auf. 1914 Einzelausstellung im Kunstverein Jena
und Freundschaft mit den Kunsthistorikern Botho Graef und Eberhard
Grisebach.
1915 meldete sich Kirchner «unfreiwillig freiwillig» als Artillerist zum
Militärdienst nach Halle. Kriegsangst, psychische und physische Erschöpfung
machten 1915–17 Sanatoriumsaufenthalte in Königstein im Taunus, Berlin und
im Sanatorium von Ludwig Binswanger in Kreuzlingen notwendig. Im Sanatorium
in Königstein entstanden Wandgemälde, die von den Nationalsozialisten später
zerstört wurden. Kirchners erste Aufenthalte in Davos von Januar bis Februar
und im Mai 1917 erfolgten auf Anraten von Grisebach, dem Schwiegersohn des
in Davos praktizierenden Lungenarztes Lucius Spengler. Kirchners
Gesundheitszustand verbesserte sich, und 1918 entschloss er sich, endgültig
in Davos zu bleiben. Erna Schilling zog 1921 – nach Auflösung des Berliner
Ateliers – ebenfalls nach Davos. Beide bewohnten bis 1923 das Haus In den
Lärchen und zogen anschliessend auf den Wildboden, ebenfalls in Davos
Frauenkirch. 1917 erste Einzelausstellung in der Schweiz in der Davoser
Buchhandlung Erfurt. Seine ersten Sammler in der Schweiz sind die Familie
Spengler und der Arzt Frédéric Bauer. Die Bekanntschaft mit Lise Gujer
führte ab 1923 zu Bildentwürfen, die diese in Wirkereien umsetzte. Kirchner
illustrierte das Buch Neben der Heerstrasse von Jacob Bosshart mit
Holzschnitten. 1923 Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel, die die
Künstler Albert Müller, Hermann Scherer und Paul Camenisch nachhaltig
beeinflusste. Es kam bis 1926 zu mehrfachen Besuchen bei Kirchner und zum
Jahreswechsel 1924–25 zur Gründung der Gruppe Rot-Blau. 1924
Einzelausstellung von Kirchner im Kunstmuseum Winterthur, die zum Misserfolg
wurde.
1925–26 mehrmonatige Reise nach Deutschland. Im Dresdner Tanzstudio von Mary
Wigman und Gret Palucca entstanden zahlreiche Zeichnungen. 1926 Beteiligung
an der Internationalen Kunstausstellung Dresden, wo er sich für Künstler der
Schweiz (Müller, Scherer, Camenisch) einsetzte. 1927 Einzelausstellung
(Grafik) in der Galerie Aktuaryus in Zürich. 1931 Reisen nach Berlin;
Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Der 1927 erteilte Auftrag zur
Ausmalung des Festsaals im Museum Folkwang in Essen wurde 1933 von der neuen
nationalsozialistischen Leitung zurückgezogen. 1933 Einzelausstellung im
Kunstmuseum Bern. Holzrelief für die Supraporte des Schulhauses in Davos
Frauenkirch. Als Kirchner 1937 in den sogenannten «Schandausstellungen» als
«entarteter Künstler» verfemt und alle 639 Arbeiten aus öffentlichem Besitz
beschlagnahmt wurden, verschlechterte sich sein psychischer Zustand
dramatisch. Körperliche Leiden und die diffamierende politische und
kulturelle Situation waren wohl die Gründe für seine Verzweiflung, die zur
Selbsttötung führten.
Werkwürdigung:
Kirchners Arbeiten zeigen in den Jahren um 1905–06 die
Auseinandersetzung mit künstlerischen Vorbildern wie den Fauves (Henri
Matisse), Paul Signac und Vincent van Gogh. 1909–1910 intensive
Beschäftigung mit aussereuropäischer Kunst im Völkerkundemuseum Dresden, was
ebenfalls seine künstlerische Gestaltung beeinflusst. In enger
Zusammenarbeit mit den Künstler-Freunden Bleyl, Heckel und Schmidt-Rottluff
entwickelte sich in den Dresdner Jahren 1909–1911 ein ausgeprägter
Gruppenstil. Die Brücke initiierte eine Kunst, die spontan aus dem inneren
Gefühl entstand und die jeden Akademismus ablehnte. «Unmittelbar und
unverfälscht» (Programm der Brücke, 1906 von Kirchner in Holz geschnitten)
sollte die Kunst sein. Obgleich das Studium der Natur als Voraussetzung für
die Kunst gesehen wurde, galt es doch, mit einer Steigerung von Form und
Farbe die eigenen Emotionen in die Kunst einfliessen zu lassen. Die
Expression wurde über die akademische Form gestellt.
In den Berliner Jahren 1912–15 malte Kirchner seine bedeutenden
Strassenszenen. In ihnen verdichtete sich die Atmosphäre einer modernen,
hektischen Metropole zu einer beeindruckenden Zeitaussage. Die während der
Sommermonate 1912–14 entstandenen Bilder von Fehmarn sind als Gegenbilder zu
verstehen. Hier wird ein freies, paradiesisches Lebensgefühl geschildert,
aus dem der Künstler mit dem Beginn des Krieges und seines Militärdienstes
gerissen wurde.
In Davos führte Kirchner erst einmal die expressive Formen- und Farbsprache
weiter. Allmählich entwickelte er jedoch eine neue Farbmalerei, in der die
so typische expressionistische Aufsplitterung der Form und Linie fast ganz
aufgegeben wurde. Auch seine Motivwahl änderte sich. Nun sind es die
Berglandschaften, Tiere, Bauern und Bäuerinnen bei der Arbeit und der
Davoser Wintersport, die ihn zur künstlerischen Auseinandersetzung
herausfordern. Sein Bild von der Welt wird von einem anderen Standpunkt aus
interpretiert, wobei die Einbindung in die Natur eine wichtige Rolle spielt.
Optische Beobachtungen und eine mehr theoretische Beschäftigung mit den
künstlerischen Mitteln flossen ab 1925 in die Überlegungen Kirchners ein.
Das Bild wird eher als Fläche verstanden, in der die malerischen und
formalen Qualitäten überwiegen. In der Folge wird die Einheit eines Bildes
auf eine harmonische Weise mit ungegliederten Farbflächen und sich frei
entwickelnden, geschwungenen Linien erreicht. Der Einfluss von Pablo Picasso
und Paul Klee, aber auch des Bauhauses und die Versachlichung in der Malerei
der 20er Jahre finden in Kirchners Malerei ihren persönlichen Widerhall.
Fast plakativ wirken seine grossformatigen Gemälde der 30er Jahre, in denen
sich die Farbflächen immer mehr von ihrer ursprünglichen Bedeutung als
farbige Körperschatten lösen und zum abstrakten Bildelement werden. In den
letzten Schaffensjahren wählte Kirchner – je nach Intention – eine mehr
abstrakte oder eine neue, realistische Bildauffassung. Mit etwa 1045
Gemälden, 971 Holzschnitten, 665 Radierungen, 458 Lithografien, zahlreichen
Aquarellen, Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen und circa 160 Skizzenheften
mit über 12'000 Skizzen hinterliess Kirchner ein an Stilen und Innovationen
reiches Werk.
Werkhinweis:
Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kupferstichkabinett; Kunstmuseum Bern;
Chur, Bündner Kunstmuseum; Kirchner Museum Davos; Frankfurt a. M.,
Städelsches Kunstinstitut; Köln, Wallraf-Richartz-Museum; München,
Bayerische Staatsgemäldesammlungen; Kunsthaus Zürich, Graphische Sammlung.
Literatur:
• Lothar Grisebach: Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tagebuch. Eine
Darstellung des Malers und eine Sammlung seiner Schriften. Neuausgabe.
Ostfildern: Gerd Hatje, 1997
• Voglio vedere le mie montagne. Die Schwerkraft der Berge 1774-1997.
Aargauer Kunsthaus Aarau; Krems, Kunsthalle, 1997. Hrsg.: Stephan Kunz, Beat
Wismer, Wolfgang Denk. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern,
1997 (Trans alpin 1)
• Die Sammlung Glarner Kunstverein. Konzept: Annette Schindler; Hrsg.:
Glarner Kunstverein. Glarus, 1995
• A chacun sa montagne. Vevey, Musée Jenisch, 1995. [Textes:] Pascal Ruedin
[et al.]. Vevey, 1995
• Dada global. Kunsthaus Zürich, 1994. [Texte:] Raimund Meyer [et al.].
Zürich, 1994 (Sammlungsheft 18)
• Kirchner Museum Davos. Katalog der Sammlung. Band II. Fotografie: Porträt,
Landschaft, Interieur, Ausstellung. Hrsg.: Gabriele Lohberg. Davos, 1992
• Kirchner Museum Davos. Katalog der Sammlung. Band 1. Gemälde, Aquarelle,
Pastelle, Zeichnungen, Holzschnitte, Radierungen, Lithographien, Plastiken.
Hrsg.: Wolfgang Henze. Davos, 1994
• Oskar Bätschmann: Malerei der Neuzeit. La peinture de l'époque moderne. La
pittura dell'età moderna. La pictura da l'epoca moderna. [Deutsche,
französische, italienische und romanische Parallelausgaben]. Disentis:
Desertina, 1989 [italienische Ausgabe: 1990] (Ars Helvetica VI)
• Kunstmuseum St. Gallen. Katalog der Sammlung. Redaktion: Rudolf Hanhart.
St. Gallen, 1987
• August Babberger. Zum 100. Geburtsjahr und 50. Todesjahr. Ein Zwiegespräch
mit Hodler, Kirchner, Pechstein, Amiet, Augusto Giacometti und Danioth.
Kunstmuseum Luzern, 1986. [Texte:] Martin Kunz, Hans H. Hofstätter, Adolf
Reinle. Luzern, 1986
• Skulptur des Expressionismus. Köln, Josef-Haubrich-Kunsthalle, 1984.
Hrsg.: Stephanie Barron. München: Prestel, 1984
• Dreissiger Jahre Schweiz. 1936 - Eine Konfrontation. Aargauer Kunsthaus
Aarau, 1981. [Texte:] Heiny Widmer [et al.]. Aarau, 1981
• Künstlergruppen in der Schweiz. Aargauer Kunsthaus Aarau, 1981. [Texte:]
Paul-André Jaccard, Beat Stutzer [et al.]. Aarau, 1981
• Die Alpen in der Malerei. Redaktion: Bruno Weber. Rosenheim: Alfred Förg,
1981
• E. L. Kirchner und seine Schüler. Chur, Bündner Kunstmuseum, 1980.
Bearbeitung: Hans Hartmann. Chur, 1980
• Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen und Pastelle. Hrsg.: Roman Norbert
Ketterer. Stuttgart, Zürich: Belser, 1979
• Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938. Nationalgalerie Berlin, 1979-80; [...];
Kunsthaus Zürich, 1980. [Texte:] Leopold Reidemeister [et al.]. Berlin, 1979
• Eberhard W. Kornfeld: Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeichnung seines Lebens.
Katalog der Sammlung von Werken von Ernst Ludwig Kirchner im Kirchner-Haus
Davos. [Textbeitrag:] Ernst Ludwig Kirchner. Bern, 1979
• Expressionismus in der Schweiz. 1905-1930. Kunstmuseum Winterthur, 1975.
[Texte:] Rudolf Koella, Erika Erni, Max Huggler. Winterthur, 1975
• Lise Gujer: Wirkereien nach Entwürfen von E. L. Kirchner. Von 1922 bis
1965. Bern: Kornfeld, 1974
• Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog
sämtlicher Gemälde. München: Prestel, 1968
• Annemarie und Wolf-Dieter Dube: E. L. Kirchner. Das graphische Werk.
München: Prestel, 1967. 2 Bde
• E. L. Kirchner und Rot-Blau. Kunsthalle Basel, 1967. [Text:] Will
Grohmann; [Hrsg.:] Basler Kunstverein. Basel, 1967
• Ernst Ludwig Kirchner. Kunsthalle Bern, 1933. [Einführung:] Ernst Ludwig
Kirchner. Bern, 1933
• Schweizer Arbeiten von E. L. Kirchner. Frankfurt am Main, Galerie Ludwig
Schames, 1922. [Texte:] Ernst Ludwig Kirchner [et al.]. Frankfurt am Main,
1922
• Bilder von E. L. Kirchner. Frankfurt am Main, Galerie Ludwig Schames,
1919. Vorwort: Botho Graef; Beiträge: E. L. Kirchner. Frankfurt am Main,
1919
• Ernst Ludwig Kirchner: Chronik KG Brücke. Berlin, 1913
• Ernst Ludwig Kirchner: Programm der Künstlergruppe Brücke. Dresden, 1906
Lexika:
Bénézit, Dictionary of Art, Thieme/Becker, Vollmer
Schlagwörter:
Fotografie, Grafik, Holzschnitt, Holzskulptur, Lithographie, Malerei,
Plastik, Radierung, Zeichnung
Quellen:
Davos, Kirchner Museum, (Fotografien, Fotoalben, Dokumente aus dem Nachlass
von Ernst Ludwig Kirchner, Archivmaterial des Nachlassverwalters Roman
Norbert Ketterer, Spezialbibliothek zu Ernst Ludwig Kirchner);
Bern / Wichtrach, Galerie Henze und Ketterer AG, Kirchner Archiv (Material
zu Bildwerken Kirchners; Fotoarchiv Bolliger/Ketterer)
Gabriele Lohberg
Bénézit Dictionnaire critique et documentaire des peintres, sculpteurs,
dessinateurs et graveurs de tous les temps et de tous les pays. Par un
groupe d'ecrivains spécialistes français et étrangers. Nouvelle édition
entièrement refondue, revue et corrigée sous la direction des héritiers de
Emmanuel Bénézit. Paris: Gründ, 1976. 10 volumes. [Editions précédentes:
1911-1924; 1948-1955]
Dictionary of Art The Dictionary of Art. Edited by Jane Turner. London:
Macmillan; New York: Grove, 1996. 34 volumes
Thieme/Becker Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis
zur Gegenwart. Unter Mitwirkung von 300 Fachgelehrten des In- und Auslandes
herausgegeben von Ulrich Thieme und Felix Becker. Leipzig: Seemann,
1907-1950. 37 Bände [Taschenbuchausgabe: München: DTV, 1992]
Vollmer Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts.
Unter Mitwirkung von Fachgelehrten des In- und Auslandes bearbeitet,
redigiert und herausgegeben von Hans Vollmer. Leipzig: Seemann, 1953-1962. 6
Bände
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