Gibsfigur von Germaine Richier,
1944 (ca.)
Modell: Cornelia Forster
Richier, Germaine
Etienette Charlotte.
*16.9.1902 Grans (F), †31.7.1959 Montpellier (F).
Bildhauerin. Akt, Porträt und surreale Figuren. Radierung, Illustration,
Bemalung von Keramik und Email. Tätig in Paris, Zürich und Südfrankreich.
1929-1954 Gattin von Otto Charles Bänninger.
Aufgewachsen als Tochter einer Weinbauernfamilie, äussert Germaine Richier
schon in jungen Jahren den Wunsch, Bildhauerin zu werden. Trotz grossem
Widerstand ihrer Eltern schreibt sie sich 1921 an der Ecole des Beaux-Arts
in Montpellier bei Louis Jacques Guigues, einem ehemaligen Assistenten
Auguste Rodins, ein. 1926 Übersiedlung nach Paris. Sie wird Privatschülerin
von Antoine Bourdelle bis zu dessen Tod 1929. Lernt dort Alberto Giacometti
kennen. Richtet ihr erstes eigenes Atelier in der Avenue du Maine ein. Im
gleichen Jahr Heirat mit dem Schweizer Bildhauer Otto Charles Bänninger.
Erste Ausstellung in der Galerie Max Kaganovitch in Paris 1934.
Auf einer Italienreise besucht sie 1935 Pompeji. Die Abgüsse der in Lava
erstarrten Menschen beeindrucken sie sehr, aber erst Jahre später finden
Anklänge daran Eingang in ihr Schaffen. 1936 erhält sie den Prix Blumenthal
de Sculpture. Beginn einer internationalen Ausstellungstätigkeit.
Freundschaft mit Cuno Amiet.
Während des Zweiten Weltkrieges emigriert sie mit ihrem Mann nach Zürich. Im
Atelier am Hirschengraben bildet sie, wie auch schon in Paris, zahlreiche
Bildhauerinnen und Bildhauer aus, beispielsweise Robert Müller, Hildi Hess,
Margrit Gsell-Heer, Lorenz Balmer, Hugo Imfeld, Katharina Sallenbach und
Arnold D'Altri. Mit dem bescheidenen Unterrichtsgeld bestreitet sie ihren
Lebensunterhalt. Richier übt als Lehrmeisterin einer ganzen
Bildhauergeneration wesentlichen Einfluss auf die Schweizer Plastik aus.
1943–45 unterrichtet sie an der Gewerbeschule in Winterthur. Eine enge
Freundschaft mit Marino Marini und Fritz Wotruba beginnt. Nach den
Gemeinschaftsausstellungen mit diesen beiden Bildhauerkollegen 1944 im
Kunstmuseum Basel und 1945 in der Kunsthalle Bern beschliesst Richier, neue
künstlerische Wege zu gehen.
1944 allein zurück nach Paris (Scheidung von Bänninger 1954). Durch die
Freundschaft mit Avantgardeschriftstellern erfährt ihr Werk eine
literarische Interpretation. Sie erhält verschiedene Illustrationsaufträge.
Richier nimmt an der internationalen Surrealismusausstellung von 1947 in
Paris teil. 1948 und 1952 Teilnahme an der Biennale di Venezia. Ab 1950
Experimente mit neuen Materialien und Ausdrucksformen. 1951 erhält sie den
Preis für Plastik an der Biennale in São Paulo.
Anfang der 50er Jahre schwere Krebsoperation. Die Krankheit veranlasst sie
1955 zum Umzug nach Südfrankreich. Am 14. September Heirat mit dem
französischen Schriftsteller und Kunstkritiker René de Solier. Nach der
grossen Retrospektive im Musée national d'art moderne in Paris, 1956,
erleidet sie einen schweren gesundheitlichen Rückschlag, von dem sie sich
nicht mehr erholt. Bis zu ihrem Tod arbeitet sie unermüdlich weiter.
Werkwürdigung:
Richier hat in Bourdelle einen Lehrer gefunden, der ihren Drang nach
handwerklicher Perfektion fördert. Sie erhält bei ihm, den sie als ihren
wichtigsten Lehrmeister ansieht, eine hervorragende Grundlage der
Formenanalyse und Konstruktion; mittels Triangulation werden die
Proportionen, der Umriss und der Raumbezug einer Figur bestimmt. Nach
Bourdelles Tod Arbeit an subtilen, realistisch beobachteten Porträts,
Ganzfiguren und Torsi, wobei die eigene Erfindungsgabe ganz bewusst dem
Zwang klassischer Vorbilder unterworfen wird. Die energisch durchmodellierte
Figuralplastik der Frühzeit orientiert sich an einer von ihrem Lehrer
übernommenen, neoklassizistischen Auffassung, die auf Harmonie bedacht ist.
1930 kommt sie mit dem Surrealismus und mit der Gruppe Abstraction-Création
in Berührung, bleibt aber von diesen Tendenzen noch unberührt. Hingegen
entwickelt sich Richiers Verbundenheit mit ihrer mediterranen Herkunft zu
einem fortan wichtigen Faktor. Sie greift auf Symbole zurück, die von ihrer
Heimat, der Provence, inspiriert sind.
In der Schweizer Emigration erteilt Richier ihrem ganzen bisherigen Schaffen
eine Absage. Sie geht inhaltlich und formal zu einem phantastischen
Realismus über. Immer deutlicher gelingt es ihr, die Metamorphose als Thema
und Methode für ihre Arbeiten nutzbar zu machen. Betroffen durch die
Kriegsereignisse in Europa, entwickelt Richier einen expressiven, von
innerer Dynamik geprägten Stil. Ab 1940 beschäftigt sie sich in ihren
Plastiken zunehmend mit der niederen Fauna: Spinnen, Ameisen, Fledermäusen
und Kröten. Beginn ihrer bedeutendsten Phase. Sie löst sich, in vollem
Besitz der technischen Mittel, ganz vom Einfluss der Tradition und findet
ihre eigene künstlerische Aussage. Anfang der Periode von Frauen-Insekten
(La Femme Sauterelle, 1945–47, Kunstmuseum Bern).
Zurück in Paris, sucht sie bewusst den Kontakt mit der avantgardistischen
Kunstszene. Vermehrt führt sie Experimente mit dem Material und in der
Themenwahl durch. Ohne dass Richier die Fühlung mit der Naturform aufgibt,
werden ihre Gestalten immer deutlicher zum Ausdruck einer dämonisch
bedrohten Welt. Nach und nach lösen sich die geschlossenen Formen auf; die
Deformation wird zum plastischen Prinzip. Sie arbeitet mit Fundgegenständen
aus Holz oder anderen Materialien, die sie direkt in das Lehmmodell
einarbeitet. Phantastische Wesen entstehen, Symbiosen von Mensch und Tier
sowie Mineral und Pflanze.
Die unheimliche Ausdruckskraft ihrer Wesen nimmt zu. Die zu Beginn unruhigen
Oberflächen werden zerklüftet, rissig und porös. Sie beginnen sich zu
zersetzen, bisweilen bis zu einem membranartigen Geäst. Trotz dieser
Veränderungen der Oberflächen und Volumen der Figuren entsteht niemals ein
amorpher Eindruck, da Richier ihr Konstruktionsgesetz konsequent zur
Anwendung bringt. Sie geht bei aller Abstraktion ihrer Plastiken von real
existierenden menschlichen Körpern oder Fundgegenständen aus. All diese
Werke entstehen im Klima der Existenzphilosophie.
Richier erhält immer wieder Bildnisaufträge. Ihre Suche nach äusserster
Ausdruckskraft entfaltet sich auch in den Porträts, die sich durch eine
charakteristische Spannung der plastischen Form zwischen Konstruktion und
Deformation, zwischen Gesetz und Freiheit auszeichnen. Ihre Kompositionen
komplizieren sich ab 1946 zunehmend. Mit dünnen Eisendrähten verbindet sie
die Extremitäten ihrer Figuren mit der Standplatte, um so den die Plastiken
umgebenden Raum zu vergegenwärtigen und in die Komposition einzubeziehen.
Diese Fadenplastiken sollen die Aussage um eine psychische Dimension
erweitern: etwa eine Verstrickung in das eigene Schicksal wie bei
L'Araignée, 1947.
Die Verschlechterung ihrer Gesundheit schlägt sich direkt in Richiers
Arbeitsweise nieder. Während ihrer Krankheitszeit beginnt sie, bemalte
Kleinplastiken im Os-de-Seiches-Verfahren, einer alten Goldschmiedetechnik,
herzustellen. Sie entdeckt die Möglichkeiten farbiger Plastik,
experimentiert mit verschiedenen Patinas und gestaltet Bleiplastiken mit
eingeschmolzenem farbigen Glas. In Zusammenarbeit mit befreundeten
Malerinnen und Malern schafft sie Gemeinschaftswerke (La Toupie, 1953,
zusammen mit Hans Hartung).
Werkhinweis:
Kunsthaus Zürich; Kunstmuseum Bern; Sprengel Museum Hannover; Paris, Musée
national d'art moderne, Centre Georges Pompidou; Antibes, Musée Grimaldi;
Mannheim, Städtische Kunsthalle.
Literatur:
• Dictionary of Women Artists. Editor: Delia Gaze. London, Chicago: Fitzroy
Dearborn Publishers, 1997, 2 vols.
• Germaine Richier. Berlin, Akademie der Künste, 1997. Hrsg.: Angela
Lammert, Jörn Merkert. Berlin: Wienand, 1997
• Jean-Louis Prat: Germaine Richier. Rétrospective. Vence, Fondation Maeght,
1996. Vence, 1996
• Christa Lichtenstern: Metamorphose in der Kunst des 19. und 20.
Jahrhunderts. Band 2. Metamorphose. Vom Mythos zum Prozessdenken.
Ovid-Rezeption. Surrealistische Ästhetik. Verwandlungsthematik der
Nachkriegskunst. Weinheim: VCH Acta Humaniora, 1992
• Francis Ponge: Texte zur Kunst. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
1990
• Dimension: Petit. L'art suisse entre petite sculpture et objet d'Alberto
Giacometti à nos jours. Grösse: Klein. Schweizer Kunst zwischen Kleinplastik
und Objekt von Alberto Giacometti bis heute. Lausanne, Musée cantonal des
beaux-arts, 1989. Edité par Erika Billeter; Contributions de Erika Billeter,
Reinhold Hohl, Dieter Honisch. Lausanne, 1989
• Der Bund fördert, der Bund sammelt. 100 Jahre Kunstförderung des Bundes.
Aargauer Kunsthaus Aarau, 1988. [Texte:] Hans Ulrich Jost, Lisbeth
Marfurt-Elmiger, Oskar Bätschmann, Marguerite und Cäsar Menz-Vonder Mühll,
Hans A. Lüthy, Myriam Poiatti, Matthias Vogel, Jörg Huber, Maddalena Disch,
Willy Rotzler, Isabelle Aeby, Johann Gfeller, Hans Ulr. Aarau: Lars Müller,
1988
• Frauen Bilder. Männer Mythen. Hrsg.: Ilsebill Barta [et al.]; [Texte:]
Hanna Gagel [et al.]. Berlin: Dietrich Reimer, 1987
• Kunstmuseum Bern: Die Skulpturen und Objekte. Les Sculptures. Vorwort:
Hans Christoph von Tavel; Redaktion, Einleitung: Sandor Kuthy. Bern:
Kunstmuseum, 1986
• Schweizer Bildhauer, Plastiker und Objektkünstler. Eine Dokumentation mit
Fotografien, Zeichnungen, Grafik und erklärenden Texten. [Hrsg.:]
Schweizerischer Bankverein; [Vorwort:] Herbert E. Stüssi; Konzeption, Texte:
John Matheson. Buchs-Zürich: Waser, 1983
• Dreissiger Jahre Schweiz. 1936 - Eine Konfrontation. Aargauer Kunsthaus
Aarau, 1981. [Texte:] Heiny Widmer [et al.]. Aarau, 1981
• Germaine Richier. Plastik. Düsseldorf, Galerie Wilhelm Grosshennig, 1971.
[Text:] Paul Vogt. Düsseldorf, 1971
• Germaine Richier 1904 [sic]-1959. Hrsg.: Galerie Creuzevault. Paris:
Hofer, Draeger, 1966
• Germaine Richier. Kunsthaus Zürich, 1963. [Texte:] Eduard Hüttinger [et
al.]. Zürich, 1963
• Jean Cassou: Germaine Richier. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1961
(Europäische Bildhauer)
• Marcel Joray: La sculpture moderne en Suisse. Schweizer Plastik der
Gegenwart. [Edition originale:] Neuchâtel: Editions du Griffon, 1955-1988.
[Edition allemande:] Neuenburg: Editions du Griffon, 1955-1989. 4 vol./4 Bde
• Germaine Richier. [Textes:] Francis Ponge [et al.]. Paris: Galerie Maeght,
1948 (Derrière le Miroir 13)
Lexika:
Bénézit, Dictionary of Art, KLS, Vollmer
Schlagwörter:
Bronzeplastik, Illustration, Plastik, Skulptur, Zeichnung
Quellen:
Die Nachlassverwalterin Françoise Guiter erarbeitet in Paris den Werkkatalog
Corinne Sotzek
Bénézit Dictionnaire critique et documentaire des peintres, sculpteurs,
dessinateurs et graveurs de tous les temps et de tous les pays. Par un
groupe d'ecrivains spécialistes français et étrangers. Nouvelle édition
entièrement refondue, revue et corrigée sous la direction des héritiers de
Emmanuel Bénézit. Paris: Gründ, 1976. 10 volumes. [Editions précédentes:
1911-1924; 1948-1955]
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Germaine Richier
1902 - 1959
DEUTSCH
ITALIANO
ADHIKARA ART
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